Worte und Taten des Philosophen

Allgemein

Illud autem te, mi Lucili, rogo atque hortor, ut philosophiam in praecordia ima demittas et experimentum profectus tui capias non oratione nec scripto, sed animi firmitate, cupiditatum deminutione: verba rebus proba. […] Facere docet philosophia, non dicere, et hoc exigit, ut ad legem suam quisque vivat, ne orationi vita dissentiat vel ipsa inter se vita. Maximum hoc est et officium sapientiae et indicium, ut verbis opera concordent, ut ipse ubique par sibi idemque sit. „Quis hoc praestabit?“ Pauci, aliqui tamen. Est enim difficile; nec hoc dico sapientem uno semper iturum gradu, sed una via.

Seneca: Ep. 20, 1–2

Übersetzung:

Jenes aber erbitte ich inständig von dir, mein Lucilius, dass du die Philosophie tief in dein Herz eindringen lässt und dass du den Beweis deines Fortschritts nicht anstellst durch Rede oder Schrift, sondern durch die Festigkeit deines Charakters, die Verminderung der Leidenschaften: Bestätige deine Worte durch Taten. Handeln lehrt die Philosophie, nicht das Reden, und dazu drängt sie, dass jeder nach seiner Regel lebt, damit nicht das Leben zur Rede im Widerspruch stehe oder das Leben in sich selbst sich widerspreche. Dieses ist die größte Aufgabe der Weisheit und ein Beweis für sie, dass mit den Worten die Taten übereinstimmen, dass man in jeder Lage mit sich selbst gleich und derselbe sei. „Wer wird das leisten?“ Wenige, manche dennoch. Es ist nämlich schwierig. Und nicht das behaupte ich, dass der Weise immer mit dem gleichen Schritt gehen werde, sondern auf dem gleichen Weg.

Analyse:

Der vorliegende Text ist kennzeichnend für das, was die Stoa, vor allem Seneca, unter Philosophie versteht. Aufgabe des Philosophen sei es, die Widersprüche zwischen Taten und Worten aufzuheben. Der Text, der dem zwanzigsten Brief an Lucilius entnommen ist, lässt sich in fünf Abschnitte gliedern.

  1. Der Brief wird mit einer inständigen Bitte eröffnet: Die Philosophie müsse in das tiefste Innere des Schülers gelangen. Philosophie müsse zur inneren Einstellung werden und werde durch Charakterfestigkeit offenbar, nicht durch Rede und Schrift.
  2. Philosophie, macht der Stoiker im nächsten Abschnitt klar, sei auf praktische Ziele ausgerichtet. Die eigene Regel solle jeder dabei erkennen, und die Taten sollten den Worten nicht widersprechen.
  3. Dem Einwand, dass niemand das Ideal erreichen könne, begegnet Seneca, indem er auf die Ausnahmen hinweist. Wenige, doch einige immerhin seien auf dem richtigen Weg.
  4. Es folgen Richtlinien für den philosophischen Lehrling, die im Alltag umgesetzt werden können. Seneca fordert Lucilius auf, bei sich zu prüfen, wie er es mit seiner Kleidung, den Mahlzeiten, dem Bau und der Einrichtung seines Hauses halte. Lucilius solle sich selbst nicht großzügiger als andere behandeln, an einer einheitlichen Regel für sein Leben festhalten.
  5. Abschließend kommt Seneca nicht umhin, auf abschreckende Beispiele falschen Handelns zu verweisen.

Was macht die Aufgabe der Philosophie aus? Für den Stoiker Seneca muss der Philosoph vor allem „einstimmig“ leben. Seneca fasst den zentralen Satz der Stoa – Zenons Formel: ὁμολογουμένως ζῆν – in dem vorliegenden Text in der Anweisung zusammen: „verba rebus proba“. Theorie und Praxis dürften nicht auseinanderklaffen, Worte und Taten des Philosophen müssten einander entsprechen („ad legem suam quisque vivat, verbis opera concordent, ne orationi vita dissentiat vel ipsa inter se vita“. Die Philosophie ist auf Praxis ausgerichtet, auf das richtige Handeln – daran lässt der Philosoph keinen Zweifel aufkommen.

Die folgenden selektiv genannten Redemittel unterstützen den Gedankengang:

a) Hendiadyoin: „rogo atque hortor“
Die Inständigkeit der Bitte wird unterstrichen.

b) Metonymie: „in praecordia ima“
Die Weisheit solle ihren Sitz in den „Eingeweiden“ der Person haben – ein schönes Bild für die existentielle Bedeutung praktisch ausgerichteter Philosophie.

c) Antithese: „non oratione nec scripto“
Worte und Taten sollen nicht auseinanderklaffen.

d) Parallelismus: „animi firmitate, cupiditatum deminutione“
Jedem Anschwellen verführerischer Affekte soll der Schüler mit klarem, festem Urteil begegnen.

e) Gesetz der wachsenden Glieder
Seneca greift immer weiter aus, um die Aufgaben der Philosophie zu beschreiben.

f) Brevitas: „verba rebus proba“
Der prägnant formulierte Appell ist durch den hypotaktisch gebauten Vordersatz vorbereitet worden. Die Anweisung zur „Einstimmigkeit“ wird so zum Zielpunkt.

g) Hyperbaton: „Maximum hoc est et officium sapientiae et indicium“
Betont wird die Wichtigkeit der Aufgabe, das Handeln mit den Worten in Übereinstimmung zu bringen.

h) Ellipse: „Pauci, aliqui tamen“
Das Glück der Wenigen entschädigt für die Mühen, die die Philosophie auferlegt.

i) Hyperbaton: „nec hoc dico sapientem uno semper iturum gradu, sed una via“
Schlägt auch der Fortschritt bisweilen in Rückschritt um, der Weg zum Glück ist grundsätzlich möglich.

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