Ein Brudermord

Livius, Sekundarstufe II

Livius. Klausur

Der Beginn römischer Zeitrechnung war ein Streit unter Brüdern. Remus hatte begonnen, den Himmel zu beobachten, und nicht weit entfernt von ihm, auf dem Palatin, sein Bruder Romulus auch.

Priori Remo augurium venisse fertur,
sex voltures;
iamque nuntiato augurio cum duplex numerus Romulo se ostendisset,
utrumque regem sua multitudo consalutaverat:
tempore illi praecepto,
at hi numero avium regnum trahebant.
Inde [hi et illi] cum altercatione congressi certamine irarum ad caedem vertuntur;
ibi in turba ictus Remus cecidit.
Volgatior fama est ludibrio fratris Remum novos transiluisse muros;
inde [Remum] ab irato Romulo,
cum verbis quoque increpitans adiecisset:
„Sic deinde, quicumque alius transiliet moenia mea!“,
interfectum.
Ita solus potitus imperio Romulus;
condita urbs conditoris nomine appellata.

1 voltur (Archaismus) → vultur, uris m.; 2 cum (Inversion) → als; 3 sua multitudo → ihre Anhängerschaft; 4 consalutare → gleichzeitig od. laut begrüßen (alqm; m. dopp. Akk.) [ alqm dictatorem → jmd. als Diktator; 5 tempore […] praecepto → wegen des Zeitvorsprungs; 6 altercatio, onis f. → Wortwechsel; 7 congressi → congredior; 8 certamine irarum (Metonymie) → in der Hitze des Gefechts; 9 ictus (P. P. P. v. ico) → schwer getroffen; 10 volgatior (Archaismus) → vulgatior v. vulgatus; 11 cum verbis quoque increpitans adiecisset → als der seinen höhnischen Worten sogar noch hinzugefügt hatte; 12 potitus → potior, potiri, potitus sum.

Aufgaben:

  • Übersetzen Sie den Text.
  • Fassen Sie den Text knapp und in gegliederter Form zusammen!
  • Stellen Sie exemplarisch heraus, wie die (ersten) „Römer“ im vorliegenden Text charakterisiert werden. Zeigen Sie dabei, ob und wie rhetorische Mittel zum Zwecke der Leserlenkung eingesetzt werden.
  • Beurteilen Sie, inwieweit diese Passage zu den Absichten passt, die Livius mit seinem Geschichtswerk insgesamt verfolgt. Beziehen Sie sich dabei auf das Proöm zum ersten Buch.

 Erwartungshorizont

1. Aufgabe

Sie übersetzen den Text, z. B.:

Als Erstes, wird überliefert, sei für Remus ein Vogelzeichen gekommen; sechs Geier nämlich; das Vogelzeichen war bereits gemeldet, als sich die doppelte Anzahl Romulus gezeigt hatte – daraufhin hatte die eigene Anhängerschaft jeden von beiden laut als König begrüßt: Wegen des Zeitvorsprungs leiteten jene, diese dagegen wegen der Zahl der Vögel die Königsherrschaft ab. Hierauf stoßen diese und jene mit einem Wortwechsel zusammen und wenden sich dann in der Hitze des Gefechts zum Mord. Dabei kam Remus um, im Gedränge schwer getroffen. Verbreiteter ist die Kunde, dass Remus zum Spott des Bruders die neuen Mauern übersprungen habe. Remus sei daher vom erzürnten Romulus getötet worden, wobei der seinen Schimpfworten sogar noch hinzugefügt habe: „So gehe es von nun an auch jedem anderen, der meine Stadtmauer überspringt!“ So bemächtigte sich Romulus allein der Herrschaft. Die neu gegründete Stadt wurde nach dem Namen ihres Gründers benannt.

2. Aufgabe

Sie fassen den Text knapp und in gegliederter Form zusammen, z. B.:

Die vorliegende Passage behandelt den Ausgang des Streits zwischen Romulus und Remus über die Frage, wer der zu gründenden Stadt den Namen geben und wer in ihr herrschen solle. Der Text gliedert sich in vier Abschnitte.

1. (Z. 1–6): Die Zwillinge haben vereinbart, die Vögel zu befragen. Remus zeigen sich sechs Vögel, Romulus zu einem etwas späteren Zeitpunkt die doppelte Anzahl an Vögeln. Beide Brüder werden darauf von ihren Anhängern zum König ausgerufen. Die Kontroverse zeichnet sich ab, wie die Vorzeichen aufzufassen seien.

2. (Z. 7–8): Der offene Streit zwischen den Brüdern und ihren Leuten lässt sich nicht mehr abwenden. Es kommt zum Blutbad. Remus wird getötet.

3. (Z. 9–13): In einer bekannteren Überlieferung habe Romulus seinen Bruder erst dann getötet, als der seine Stadtmauer übersprungen habe.

4. (Z. 14–15): So ist der Streit entschieden: Romulus übernimmt die Alleinherrschaft in der Stadt und gibt ihr seinen Namen.

3. Aufgabe

Sie stellen exemplarisch heraus, wie die (ersten) „Römer“ im vorliegenden Text charakterisiert werden, z. B.:

Der Mord an Verwandten, Vater, Mutter, Schwester oder Bruder gilt als ein nicht wieder gut zu machendes Verbrechen. Vermutlich sieht auch Livius es als Ärgernis an, dass ein Blutbad unter Brüdern den Anfang römischer Geschichte bildet. Die Bürgerkriege seiner eigenen Zeit müssen ihm vor Augen getreten sein. Die Frage nach der Schuld des Romulus wirft darum die Frage auf, ob und wie Livius den Brudermord dargestellt hat, ob er ihn womöglich verschwiegen oder ob er Partei für einen der Brüder ergriffen hat.

Es muss festgehalten werden, dass der Geschichtsschreiber die Ereignisse nicht nur nicht ignoriert, sondern, wie gewohnt, anschaulich und aus römischer Perspektive polyphon (vielstimmig) geschildert hat. Insbesondere die dargestellte Rede, direkt (vgl. Z. 12–13) oder indirekt (vgl. Z. 11), trägt dazu bei, beide Seiten des Konflikts wahrzunehmen. Folgende rhetorische Mittel seien beispielhaft genannt.

a) Verstärkendes „consalutaverat“ (Z. 4): 

Der Leser „hört“ gewissermaßen, wie die Anhänger beider Seiten zu ihren Favoriten treten und in Hochrufe auf den neuen König einfallen, weil das verstärkende „consalutaverat“ statt des einfachen „salutaverat“ verwendet wird.

b) Alliterationen (vgl. Z. 7): 

Die „ersten“ Römer fahren fort sich zu streiten. Die Alliteration harter Verschlusslaute (c/t) bewirkt, dass die Heftigkeit der Auseinandersetzung nachempfunden werden kann.

c) Inversion (Z. 8: „in turba ictus Remus cecidit“): 

Der Kampf steigert sich. Man schreckt nicht mehr vor Gewalt zurück. Die Inversion ist bedeutsam, weil sie die Tötung des Bruders „plausibler“ erscheinen lässt: Nicht nur Romulus trägt daran die Schuld, sondern das im Gewühl („turba“) aufeinanderstoßende Gemenge der Römer.

d) Archaismen (Z. 2: „voltures“; Z. 9: „volgatior“):

Livius setzt sie bewusst ein, einerseits, um die Darstellung älter und würdevoller erscheinen zu lassen. Andererseits wird dem Leser auf diese Weise geholfen, sich zeitlich innerhalb der auf 700 Jahre angelegten Chronologie zurechtzufinden, indem er durch den altertümlichen Stil (vetustas dicendi) gleich an die Ursprünge erinnert wird.

e) Ellipse (Z. 12: „Sic deinde“):

Das vorangestellte „Sic“ wird scharf ausgesprochen und akzentuiert die Härte und den Durchsetzungswillen des Stadtgründers. Die Ellipse macht deutlich, dass Vorsicht geboten ist: Das schändliche Verbrechen könnte wiederholt werden.

f) Sentenz (vgl. Z. 15)

Dass Romulus schließlich den größeren Einfluss auf die römische Geschichte behielt, wird durch die sentenzenhafte Kürze des Schlusssatzes vor Augen geführt. Sie ist zugleich als Anspielung auf den Stil der Annalisten zu verstehen.

g) Figura etymologica (Z. 15: „condita urbs conditoris nomine“)

Die damit verbundene Figura etymologica macht „beweiskräftig“, dass die Stadt und ihr Gründer auch in etymologischer Hinsicht zusammengehören.

Als Fazit lässt sich festhalten, dass die „ersten“ Römer zur Gewalt neigen, zum Bruderkampf. Rasch ist die Leidenschaft entflammt – was die Metonymie „certamine irarum“ (Z. 7) nachdrücklich belegt –, wenn es an Einheit (concordia) fehlt. Romulus wird im Übrigen nicht reingewaschen. Sein Anteil am Verbrechen wird offengelegt.

4. Aufgabe

Sie beurteilen, inwieweit diese Passage zu den Absichten passt, die Livius mit seinem Geschichtswerk insgesamt verfolgt, z. B.:

Die Polyphonie der Darstellung ist bereits im Vorwort des livianischen Geschichtswerkes Programm. Livius weiß, dass dieses Werk seinen Platz nur behaupten wird, wenn er mustergültige wie abschreckende Beispiele gleichermaßen ins Bewusstsein rückt. Überwiegt das abschreckende Beispiel, wie in der vorliegenden Passage, legt der Autor sich dennoch Zurückhaltung auf. Er präsentiert lediglich eine zweite Variante der Erzählung (Z. 9: „volgatior fama est ludibrio fratris Remum novos transiluisse muros“), um den Brudermord in einem anderen Licht erscheinen zu lassen.