Die sauren Trauben

Phaedrus, Sekundarstufe I

Oder: Wahre Helden machen Fehler

 Annalenas Interpretation (9. Klasse)

Text:

Fame coacta vulpes alta in vinea
uvam appetebat summis saliens viribus.
Quam tangere ut non potuit, discedens ait:
„Nondum matura est; nolo acerbam sumere.“
Qui, facere quae non possunt, verbis elevant,
adscribere hoc debebunt exemplum sibi.

(Phaedrus 4.3)

Übersetzung:

Vom Hunger getrieben, versuchte der Fuchs am hohen Weinstock /
nach der Traube zu gelangen, aus Leibeskräften in die Höhe springend. /
Als er diese nicht erreichen konnte, sagte er im Abgang: /
„Sie ist noch nicht reif; eine saure Traube möchte ich nicht verzehren.“ /
Diejenigen, die das, was sie nicht leisten können, mit Ausreden abschwächen, /
werden sich dieses Beispiel hinter die Ohren schreiben müssen.  

Interpretation:

Schon am ersten Vers merkt man gleich, dass es um den Fuchs („vulpes“, V. 1) geht, da der Ausdruck in der Versmitte steht. Der Fuchs ist der Held dieser Fabel. Allerdings wird er sich nicht als wahrer Held erweisen, wie der Leser am Ende erfährt. Die Traube („uvam“, Tonstelle in V. 2) wird besonders hervorgehoben, sodass das Ziel der Handlung deutlich wird: Der Fuchs möchte an die Traube gelangen. Der Verssprung von V. 1 bis V. 2 verdeutlicht die Entfernung zwischen dem Fuchs und der Traube. Im zweiten Vers findet sich außerdem eine Alliteration: „summis saliens“ (Hyperbaton zwischen „summis“ und „viribus“). So wird hervorgehoben, dass der Sprung nach der Traube nicht einfach ist. Die Fabel enthält eine auffällige Wortwiederholung, nämlich „non potuit“ (V. 3) und „non possunt“ (V. 5). Dies macht deutlich, dass der Fuchs etwas nicht kann, dass er sein Ziel für dieses eine Mal nicht erreicht. Im letzten Vers befindet sich ein Hyperbaton, da „adscribere“ und „sibi“ getrennt voneinander und nicht gemeinsam auftreten. „[S]ibi“ wird so zum Schlusspunkt der Fabel. Das Hyperbaton sorgt dafür, dass der Mittelteil, also „hoc debebunt exemplum“ besonders auffällt, damit der Leser sofort weiß, was er auf sich selbst beziehen muss. Ihm wird auf diese Weise mitgeteilt, dass diese Fabel auf sein eigenes Verhalten zu beziehen ist. Mit anderen Worten: Er soll sein eigenes Verhalten am Beispiel des Fuchses überprüfen. Kann er eigenes Versagen eingestehen, oder wird er wie der Fuchs für einen Fehler immer eine Ausrede finden? Ein wahrer Held wäre zu einem solchen Eingeständnis fähig.

Keine Fabel ohne Fehler, kein Fehler ohne Ausrede hieße im Umkehrschluss: keine Ausrede ohne Fabel.

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