Die Frage nach der Schuld Apolls

Ovid

Apoll und Daphne

Die Frage nach der Schuld Apolls wirft neben der Beteiligung an der Verwandlung Daphnes weitere Fragen auf. Besonders die Frage, ob Apoll vor der Jagd auf Daphne mit weiteren Frauen in Beziehung stand, ist für das Verständnis der Daphne-Episode wichtig. Ovid spricht von Daphne als der ersten Liebe Apollons, des „Strahlenden“, wie er ausdrücklich sagt: „Primus amor Phoebi Daphne Peneia“ (Ov. Met. 1.452). Ovid scheint damit anzudeuten, wie unerfahren der Gott der Jagd in Liebesgefühlen ist. Offenbar hat er sein Leben bisher der Jagd gewidmet, genauso übrigens wie seine Zwillingsschwester Diana. Diana kann der Ehe rein gar nichts abgewinnen. Der Zölibat verdient bei ihr den Vorzug, wie Daphne weiß: Oft sagte Daphnes Vater: »Tochter, du schuldest mir einen Schwiegersohn.« Oft sprach er: »Mein Kind, du schuldest mir Enkel!« Sie aber hasste die Hochzeitsfackeln wie ein Verbrechen; ihr schönes Gesicht war von schamhafter Röte übergossen, und indem sie mit schmeichelnden Armen am Halse ihres Vaters hing, sprach sie: »Lass mich, liebster Vater, ewig Jungfrau bleiben; dies hat auch Vater Iuppiter der Diana gewährt.«“ (Ov. Met. 1.481–487). Es kann also kein Zweifel daran bestehen, das Amor, der „lose Junge“ (lascivus puer, vgl. Ov. Met. 1.456) erfahrener als Apoll in den Fragen der Liebe ist.

Um die wichtige Frage nach der Beteiligung Apolls an der Verwandlung Daphnes zu klären, haben viele Forscher – und Künstler – an allen Anspielungen der der Verwandlung vorausgehenden Jagd und der Verwandlung selbst herumgedeutet. Jedes Wort, jede Geste des Jägers und der Verfolgten ist unter die Lupe genommen worden. Es gibt Interpreten, die in Apoll das Urbild des kopflos und erregt jagenden, nur an Sex interessierten Mannes erkennen.

Hanc quoque Phoebus amat positaque in stipite dextra 553

sentit adhuc trepidare novo sub cortice pectus

conplexusque suis ramos ut membra lacertis 555

oscula dat ligno; refugit tamen oscula lignum.

cui deus ‚at, quoniam coniunx mea non potes esse,

arbor eris certe‘ dixit ‚mea! semper habebunt

te coma, te citharae, te nostrae, laure, pharetrae;

tu ducibus Latiis aderis, cum laeta Triumphum 560

vox canet et visent longas Capitolia pompas;

postibus Augustis eadem fidissima custos

ante fores stabis mediamque tuebere quercum,

utque meum intonsis caput est iuvenale capillis,

tu quoque perpetuos semper gere frondis honores!‘ 565

finierat Paean: factis modo laurea ramis

adnuit utque caput visa est agitasse cacumen.

Quelle: Gottwein.de

Aufgabe:

  • Vergleichen Sie vor diesem Hintergrund die folgenden Bilder.
Künstler: Gian Lorenzo Bernini; Foto: Architas / Wikipedia
Künstler: John William Waterhouse

Aufgaben:

  • Formuliere innerhalb dieses Vergleichs wenn möglich einige Passagen auf Lateinisch. Das beigefügte Wörterbuch kann dir bei der Vokabelsuche helfen: Wörterbuch
  • Bewerte auf der Grundlage der Übersetzung, ob nicht nur Daphne, sondern auch Apoll eine Verwandlung durchlebt hat. Formuliere deine Antwort unter Berücksichtigung von Textbelegen.
  • Antworte schriftlich auf die folgende Interpretation. Du kannst deine Antwort einleiten mit „Lieber Interpret, Sie haben die abschließende Passage der Verwandlung Daphnes so gedeutet, dass …“

Völlig unvermittelt folgt in Ov. Met. 1.557, bis einschließlich 565, der Schluss, bei dem sich Apoll in einer höchst pathetischen Rede an den Lorbeer wendet: Wenn sie ihm schon keine Gattin sein kann, dann soll sie ihm wenigstens als Baum gehören („at quoniam coniunx mea non potes esse, / arbor eris certe“, Met. 1.557–558). Diesem Baum wird die Ehre zukommen, Zeichen dichterischen und militärischen Triumphes zu sein. Der Stil dieser Rede ist erneut hymnenartig: die dreifache te-Anapher, der Superlativ fidissima weisen darauf hin.

Doch in diesem zweiten Hymnus findet Apoll zu seiner geläuterten göttlichen Souveränität zurück. Er hat sich nun in sein Schicksal gefügt. Dies zeigt sich besonders im Inhalt, denn diese Rede ist viel weniger ichbezogen – der Baum steht nun im Mittelpunkt –, Apoll zeigt sich nicht mehr als Angeber. Indem er den Lorbeer durch Ehrenstellung adelt, mildert er nachträglich die Gewalt, die er Daphne angetan hat. Auch sie scheint ihm nun verziehen zu haben – jedenfalls nickt der Baum auf die Rede hin zustimmend (factis modo laurea ramis adnuit utque caput visa est agitasse cacumen, Met. 1.566–567). Versteht man es als versöhnliche Geste, dass Apoll für Daphne zum Päan, also Heiland (vgl. finierat Paean, Met. 1.566), geworden ist, weil er das Mädchen mit ihrem Schicksal als Baum versöhnt und ihr triumphale Ehren zuteil werden lässt.

Quelle: Apoll und Daphne