Die Natur des Chaos

Ovid, Sekundarstufe II

15      Utque erat et tellus illic et pontus et aër,
          sic erat instabilis tellus, innabilis unda,
          lucis egens aër; nulli sua forma manebat,
          obstabatque aliis aliud, quia corpore in uno
          frigida pugnabant calidis, umentia siccis,
20      mollia cum duris, sine pondere habentia pondus.
          Hanc deus et melior litem natura diremit.
          Nam caelo terras et terris abscidit undas
          et liquidum spisso secrevit ab aëre caelum.

Erwartungshorizont

  1. Aufgabe
    Sie übersetzen den Text, z. B. folgendermaßen:

Zwar gab es dort Erdreich und Meer und Luft, aber nicht fest war der Boden, nicht zu durchschwimmen die Welle, die Luft war ohne Licht; keinem blieb seine Form erhalten, das eine war dem anderen hinderlich, weil in ein und demselben Körper Kaltes mit Warmen kämpfte, Feuchtes mit Trockenem, Weiches mit Hartem, das ohne Gewicht mit dem, die Gewicht hatte. Diesen Streit schlichtete ein Gott – oder eine bessere Natur. Denn sie schnitt vom Himmel die Länder ab und von den Ländern die Wasser und sonderte den flüssigen Himmel von dem festen Luftraum ab.

  1. Aufgabe
    Sie informieren den Leser über die Texte, z. B.:

Die „Metamorphosen“, Ovids umfangreichstes Werk, enthalten in 15 Büchern zumeist Verwandlungssagen. Zum Programm des ersten Buches gehört die Darstellung der Kosmogonie und der Vier Weltalter. In den mir vorliegenden Texten geht es um die Entstehung der Erde, insbesondere um die Ausdifferenzierung und Abgrenzung der Lebensräume aus dem anfänglichen Chaos.
Die Darstellung lässt sich nach den folgenden Aspekten in zwei Teile teilen:

  1. Der Dichter formuliert ein persönliches Vorwort (Ov. Met. 1, 1–4).
  2. Er behandelt die Frage nach der Entstehung der Welt (Ov. Met. 1, 5–35).

  1. Aufgabe
    Sie untersuchen, durch welche Bilder die Naturmotive in den Texten entfaltet, durch welche Stilmittel die Aussagen unterstützt werden, z. B.:

„Nulli sua forma manebat“ (Ov. Met. 1,17): Keinem blieb seine Form. Was so lakonisch im vorliegenden Text geschrieben steht, bewahrheitet sich vollkommen. Dieser Satz enthält nämlich im Kern das Muster der Gesamtlage, die Ovid in seinem Werk, der Chronologie bis in seine Zeit folgend, schildern möchte (vgl. Proöm, Ov. Met. 1,1–4). Die Brauchbarkeit dieses Musters scheint unerschöpflich zu sein: Auch aus dem von mir übersetzten Text (Ov. Met. 1,15–23) geht hervor, dass die Natur dem Prinzip der Verwandlung unterliegt. Nichts wäre daher falscher, als die Anfänge der Natur geordnet zu nennen. Dergleichen wurde erst behauptet, als, durch die Bürgerkriege der republikanischen Zeit bedingt, ein gewisser Trost in den Erzählungen des Anfangs gesucht wurde. So sind die Gedanken einer Deszendenz und Dekadenz wieder aufgenommen worden, die vor allem im Weltaltermythos (vgl. Ov. Met. 1,89–150) zur Sprache kommen. Die Kräfte des Chaos treiben es ärger als zuvor, möchte Ovid seinen Lesern andeuten. Das Eiserne Zeitalter ist ein Spiegel, der Nasos Zeitgenossen als probates Mittel der Wiedererkennung angeboten wird. Doch es müsste die Leser der „Metamorphosen“ beunruhigen, zu erfahren, dass bereits bei der Erdentstehung diese chaotischen Kräfte wirksam gewesen sind.

Die Natur der Erdentstehung ist die Natur des Chaos. Das Chaos wiederum ist schwer („Nichts als träges Gewicht“, Ov. Met. 1,8) und finster, das Licht kommt nicht zum Vorschein in ihm („Titan gab es noch nicht, die Welt mit Licht zu erhellen“, Ov. Met. 1,10). So ist die Zeit zwar noch nicht in Tag und Nacht geschieden, andererseits kann die Schöpfung nur aus dem Chaos hervorgehen, wenn es die sich streitenden Gegensätze des Finsteren und des Hellen bereits gibt.

Den von mir übersetzten Text aber bestimmen zunächst andere Gegensätze: das Kalte und das Warme, das Trockene und das Feuchte, das Weiche und das Harte, schließlich das Leichte und das Schwere (vgl. Ov. Met. 1,19–20). Die Elemente („tellus“, „pontus“ und „aër“, Ov. Met. 1,15), die konstitutiven Bestandteile der Erdentstehung, sind zu diesem Zeitpunkt nicht konkret fassbar, sondern nur abstrakt, der Idee nach vorhanden („Disharmonierende Samen nur lose vereinigter Dinge“, Ov. Met. 1,9). Der Gang der Dinge ist zwar absehbar, aber ohne kausale Beziehungen – als ob in der gesättigten, flirrenden Atmosphäre auf der Leinwand des Impressionismus nur dumpfe, rohe Eindrücke von den abgebildeten Gegenständen vermittelt würden, fehlt doch bei dieser Schöpfung Ovids das Licht, das die Formen der Gegenstände durch seine Reflexe erst zum Leuchten bringt.

Der Eindruck vom Missverhältnis der Dinge wird durch folgende stilistische Mittel unterstützt (Auswahl):

  • Kampfmetaphorik: „pugnabant“ (19); „litem“ (21)
  • Antithesen: „frigida pugnabant calidis, umentia siccis, / mollia cum duris, sine pondere habentia pondus“ (19–20)
  • Oxymora: „instabilis tellus, innabilis unda,/ lucis egens aër“ (16–17)
  • Polyptota: „obstabatque aliis aliud“ (18); „sine pondere habentia pondus“ (20); „Nam caelo terras et terris abscidit undas“ (22)
  • Hyperbata: „Hanc deus et melior litem natura diremit“ (21); „et liquidum spisso secrevit ab aëre caelum“ (23).

  1. Aufgabe
    Sie vergleichen die Darstellung im Mythos von den Vier Weltaltern mit der Darstellung in den vorliegenden Texten, z. B.:

Im Weltaltermythos gibt Ovid Antwort auf die Frage, warum die Welt wurde, wie sie ist. In drastischen Bildern wird die Wende vom Guten zum Schlechten geschildert. Das Eiserne Zeitalter bezeichnet dabei das verdorbene Weltalter, in dem Eigentum erworben und Rohstoffe gewonnen werden. Das Eiserne Zeitalter ist das letzte, das gegenwärtige Zeitalter.

Des Dichters Bemerkungen über das, was die Menschheit, sofern sie sich nur vom Schlechten zum Besseren wendete, an der Natur vermöchte, sind allerdings deutlich ausgesprochen. Vier Betätigungsfelder werden genannt: In den Bereichen des Rechtswesens (vgl. Ov. Met. 1,89–93), der Seefahrt (vgl. Ov. Met. 1,94–96), des Krieges (vgl. Ov. Met. 1,97–99) und des Ackerbaus (vgl. Ov. Met. 1,101–102) kann der Mensch erfolgreich sein, sich mittels seiner höheren Vernunft als Krone der Schöpfung erweisen (vgl. dessen Funktionsbestimmung im Mythos über die Erschaffung des Menschen: „Ein reineres Wesen, Gefäß eines hören Geistes, / über die andern zu herrschen befähigt, es fehlte noch immer“, Ov. Met. 1,76–77). Von dieser Art des Vernunftgebrauchs kann aber im Kontext des ersten Buches der „Metamorphosen“ keine Rede sein. Die Kampfmetaphorik des oben übersetzten Textes kehrt im Mythos von den Vier Weltaltern wieder. Bilder der Harmonie werden von Bildern der Gewalt durchkreuzt. So beschreibt der Erzähler das Goldene Zeitalter durch sein Gegenteil. Bilder der Gewalt werden vorweggenommen, z. B. Kriegs- und Waffenbilder (vgl. Ov. Met. 1,97–99). Diese Bilder erscheinen im Mythos vom Eisernen Zeitalter wieder (vgl. Ov. Met. 1,142–143).

„Nulli sua forma manebat“ (Ov. Met. 1, 17). Liest man, wie unterschiedlich die Naturmotive im Kontext des ersten Buches behandelt werden, kann die These aufrechterhalten werden, dass die Formen sich wandeln. Aber im Zweifel steht, ob nicht eines bleibt: Die Kräfte des Chaos treiben ihr Unwesen, ärger denn je.