Seneca: Epistula 47, 16–17
Text
Am Schluss seines Briefes (Epistula 47) geht Seneca unter anderem auf die Frage ein, was eigentlich ein „Sklave“ ist.
Quemadmodum (1) stultus est, qui equum empturus (2) non ipsum inspicit, sed stratum eius ac frenos, sic stultissimus est, qui hominem aut ex veste aut ex condicione, quae vestis modo (3) nobis circumdata est, aestimat. „Servus est.“ Sed fortasse liber animo. „Servus est.“ Hoc illi nocebit? Ostende, quis non sit: Alius libidini servit, alius avaritiae, alius ambitioni, omnes spei, omnes timori. Dabo (4) consularem (5) aniculae (6) servientem, dabo ancillulae (7) divitem. […] Nulla servitus turpior est quam voluntaria. Quare non est, quod (8) fastidiosi isti te deterreant (9), quominus servis tuis hilarem te praestes (10) et non superbe superiorem (11): Colant potius te, quam timeant.
1) quemadmodum: wie ; 2) empturus: wenn er im Begriff ist, […] zu kaufen; 3) modō mit Gen.: in der Art von, wie; 4) dare: hier: als Beispiel anführen; 5) cōnsulāris: ehemaliger Konsul; 6) anicula: unbedeutende alte Frau; 7) ancillula: junge Sklavin; 8) nōn est quod mit Konj.: es besteht kein Grund, dass; 9) dēterrēre quōminus: davon abschrecken, dass; 10) sē praestāre mit Akk.: sich erweisen als; 11) superior: überlegen, von oben herab.
Übersetzung
Wie jemand ein Dummkopf ist, welcher, wenn er vorhat, ein Pferd zu kaufen, es nicht selbst begutachtet, sondern seine Decke und seine Zügel, so ist ein sehr großer Dummkopf, welcher einen Menschen entweder nach seiner Kleidung oder seinem Stand beurteilt, der uns doch nach der Art eines Kleidungsstückes umgelegt ist. „Sklave ist er.“ Aber vielleicht frei in seinem Herzen. „Sklave ist er.“ Das wird ihm schaden? Zeig [mir], wer es nicht ist: Einer ist Sklave seiner Sinnlichkeit, ein anderer seiner Habsucht, ein anderer seines Ehrgeizes, alle der Hoffnung, alle der Furcht. Als Beispiel werde ich [dir] einen ehemaligen Konsuln anführen, der einem alten Mütterchen Sklavendienst leistet, ich werde [dir] einen reichen Herrn anführen, der das gegenüber einer jungen Sklavin tut. […] Kein Sklavendienst ist schimpflicher als der aus eigenem Antrieb. Daher besteht kein Grund, dass diese Hochmütigen da dich davon abschrecken, dass du dich deinen Sklaven gegenüber freundlich zeigst und nicht überheblich von oben herab: Verehren sollen sie dich lieber, als dass sie dich fürchten.
Zusammenfassung
Der 47. Brief Senecas behandelt die Frage, ob Lucilius mit seinen Sklaven richtig umgehe. Der vorliegende Text, der diesem Brief entnommen ist, gliedert sich in vier Teile.
- (Z. 1–3): Zunächst wird der These, Sklaverei sei etwas Äußerliches, der Vergleich vorausgeschickt, dass jemand vor dem Kauf eines Pferdes nicht das Tier selbst einer Prüfung unterzieht, sondern dessen Decke oder Zügel. Seneca betrachtet dieses Verhalten als einfältig und schließt daran an, dass es deshalb umso einfältiger sei, den Wert eines Menschen an seiner Kleidung oder seinem sozialen Stand zu bemessen. Der soziale Stand sei uns wie ein Kleidungsstück umgeworfen.
- (Z. 3–4): Der fictus interlocutor meldet sich zweimal zu Wort: Ein Sklave bleibe ein Sklave. Seneca weist darauf hin, dass ein Sklave zumindest innere Freiheit besitzen könne.
- (Z. 4–6): Im Anschluss daran führt Seneca dem Leser verschiedene Formen der Sklaverei beispielhaft vor Augen: Der eine könne seine Begierden nicht zügeln, der andere dagegen fröne seinem Ehrgeiz. Alle würden schließlich beherrscht von ihren Hoffnungen und Befürchtungen.
- (Z. 6–8): Und deshalb, folgert Seneca, solle Lucilius von seiner gelassenen Einstellung seinen Sklaven gegenüber nicht absehen. Ehrerbietung vor dem Herrn sei wichtiger als Furcht vor ihm. Darauf, schließt der vorliegende Text, komme es an.
Analyse
Seneca teilt zunächst den allgemeinen Standpunkt, dass der Sklave mit dem Tier gleichzustellen ist, in gewisser Hinsicht auf einer Linie mit der Frau und dem Kind steht, insofern sie der patria potestas, der „väterlichen Rechtsgewalt“ unterworfen sind. Das Wort „condicio“ (Z. 2) drückt dieses Verhältnis aus: Es geht um die soziale Stellung, die ein Mensch in der Gesellschaft einnimmt. Es ist aber von Bedeutung, darauf hinzuweisen, dass Seneca dabei an die Stellung in der äußeren Welt denkt und dies durch den Vergleich mit der Kleidung auch deutlich macht: „condicio[..], quae vestis modo nobis circumdata est“ (Z. 2–3). Das lateinische Wort „condicio“ bedeutet: „position, state, circumstances (of personal fortune); legal position or status“, OLD (2012) 432.
Seneca sieht Sklaverei als etwas Äußerliches an. Wer Sklave wird, wird es durch Zufall (fortuna) oder Bestimmung (fatum). Daneben findet sich aber die innere Abhängigkeit – Seneca nennt sie in dem vorliegenden Text ausdrücklich: die „servitus voluntaria“ (vgl. Z. 6). Infolgedessen, was die weitere Auslegung des Begriffs betrifft, erscheinen alle Menschen als Sklaven: Niemand ist so frei im Geiste, dass er sich von seinen Ängsten und Hoffnungen befreien könnte. „Ostende, quis non sit: Alius libidini servit, alius avaritiae, alius ambitioni, omnes spei, omnes timori“ (Z. 4–5). Der Philosoph hat also ein derart großes Gefühl für die psychische Welt, dass er auch von einem ehemaligen Konsuln als Sklaven spricht – und ihn dafür verurteilt: „Dabo consularem aniculae servientem […] Nulla servitus turpior est quam voluntaria“ (Z. 5–6). Wir wissen, dass die Ethik und Psychologie der Stoa ihr Augenmerk auf die „innere Sklaverei“ richtet, die durch freiwillige Zustimmung nur verschlimmert werden kann.
Dieser Form der Sklaverei lässt sich nur mit Einsicht und Gelassenheit, nicht mit Hochmut begegnen. Seneca nimmt an, dass Lucilius seine innere Abhängigkeit bereits erkannt hat und darum gelassen und weise gegenüber seinen Sklaven auftritt.