Dekadenz – oder: Verfall

Ovid

Eisernes Zeitalter

Der Mythos vom Eisernen Zeitalter

Im Zeitaltermythos gibt Ovid Antwort auf die Frage, warum die Welt wurde, wie sie ist. In drastischen Bildern wird die Wende vom Guten zum Schlechten geschildert. Das Eiserne Zeitalter bezeichnet dabei das Zeitalter, in dem Eigentum erworben und Rohstoffe gewonnen werden. Das Eiserne Zeitalter ist das letzte, das gegenwärtige Zeitalter.

V. 127–131:

Der Verlust von Ehrgefühl, Wahrheit und Treue (pudor verumque fidesque) im Eisernen Zeitalter führt Verbrechen und Gewalttätigkeiten nach sich. Die moralisch guten Eigenschaften werden personifiziert: Sie fliehen (V. 129: fugere) buchstäblich vor den schlechten Eigenschaften.
Aufgezählt werden dann sowohl die schlechten als auch die guten Eigenschaften. Vor allem hinsichtlich der ersten gewinnt der Leser den Eindruck, es handle sich um eine schier endlose Kette von Gewalttätigkeiten (fraudesque dolusque. / insidiaeque et vis et amor sceleratus habendi).

V. 133–134:

Die Gewaltdarstellung erstreckt sich nicht nur auf den menschlichen Bereich, sondern auch auf die Natur, z. B. die Bäume, vgl. die Textparallele im Mythos vom Goldenen Zeitalter (V. 94–95). Die Bäume werden gefällt, müssen für den Schiffsbau dienen. Die Bäume stehen nicht mehr an dem für sie bestimmten Ort. Die Antithese montibus altis – fluctibus ignotis (V. 133–134) unterstreicht, dass die Bäume eigentlich nicht ins Wasser gehören.

Nicht nur der Seemann, auch die Balken unter seinen Füßen segeln im fremden Gewässer (fluctibus ignotis). Diese Personifikation erzeugt Mitgefühl beim Leser, Mitgefühl für die leidenden Bäume als Teil der leidenden Natur.

V. 135–136:

Der Mensch kommt zu Eigentum. Dafür wird das, was vorher allen zur Verfügung gestanden hat (communemque […] humum) sorgfältig abgemessen und parzelliert. Der Landvermesser (mensor) schreitet das neu aufgeteilte Land ab. Der Schauplatz der Handlung (humum longo signavit limite) befindet sich dabei in jenem Zwischenraum, der durch das Hyperbaton cautus – mensor geschaffen worden ist. So wird die Grenzziehung auch in formaler Hinsicht deutlich. Außerdem wird die Eigenschaft cautus dadurch an den Anfang des Verses gerückt. „Penibel“ zieht der Landvermesser die Grenzen, womit künftige Grenzstreitigkeiten vorweggenommen wären.

Die pessimistische Weltsicht des Erzählers wird in allen Texten des Weltalterzyklus deutlich. Bilder der Harmonie werden von Bildern der Gewalt durchkreuzt. So beschreibt der Erzähler das Goldene Zeitalter durch sein Gegenteil. Bilder der Gewalt werden vorweggenommen, z. B. Kriegs- und Waffenbilder (V. 97–99). Diese Bilder kehren im Mythos vom Eisernen Zeitalter wieder (V. 142–143).

Einen weiteren Schwerpunkt der Erzählung bilden Naturmotive. Bilder von einer großzügigen, harmonischen und friedlichen Erde bestimmen die Darstellung vom Goldenen Zeitalter. In scharfen Gegensatz dazu tritt in den vorliegenden Zeilen die Darstellung des Eisernen Zeitalters. Die Erde wird verletzt und verwundet, auf der Suche nach Rohstoffen durchsticht der Mensch die Eingeweide der Mutter Erde (V. 138: viscera terrae).

Dass der Text als Kunstwerk zu betrachten ist, geht aus dem Gesagten bereits hervor. Ovid versteht es meisterhaft, Handlung in Sprache zu übersetzen. Waffengeklirre wird z. B. durch die Assonanz harter Verschlusslaute (c-t) nachempfunden (V. 143: crepitantia concutit arma). Gewalt wirkt auf den Leser umso bedrohlicher, wenn sie klanglich unterstützt wird. Zugleich wird die Bildlichkeit bis ins Monströse gesteigert. Der Krieg selbst schüttelt die Waffen mit blutiger Hand (V. 143: sanguineaque manu crepitantia concutit arma). Das namenlose Grauen des Krieges bekommt ein Gesicht, wird handgreiflich, im doppelten Sinn des Wortes, durch den für sich genommen einfachen Trick der Personifikation.

Ovid: Metamorphosen 1, 127–143

Übersetzung

De duro est ultima ferro. (127)
protinus inrupit venae peioris in aevum
omne nefas: fugere pudor verumque fidesque;
in quorum subiere locum fraudesque dolusque.
(130)
insidiaeque et vis et amor sceleratus habendi.
vela dabant ventis nec adhuc bene noverat illos
navita, quaeque prius steterant in montibus altis,
fluctibus ignotis insultavere carinae,
communemque prius ceu lumina solis et auras.
(135)
cautus humum longo signavit limite mensor.
nec tantum segetes alimentaque debita dives
poscebatur humus, sed itum est in viscera terrae,
quasque recondiderat Stygiisque admoverat umbris,
effodiuntur opes, inritamenta malorum.
(140)
iamque nocens ferrum ferroque nocentius aurum
prodierat, prodit bellum, quod pugnat utroque,
sanguineaque manu crepitantia concutit arma.
(143)

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